Ein Rückschlag

10. Juni 2017

Der Naturlehrpfad in Ratzersdorf ist nun schon seit Jahren ein Fixpunkt für uns, den wir immer wieder gerne besuchen. Enten und Teichhühner schwimmen auf dem naturbelassenen Teich und unter der Oberfläche schießen Hechte durch das Wasser, während um uns viele Libellen und Schmetterlinge ihre Kreise ziehen. Gestern in den späten Stunden des warmen Nachmittages durchstreiften wir auch den hinteren Teil des Lehrpfades auf der Suche nach verschiedenen Insekten. Besonders aufgefallen war uns dabei eine kleine Federmotte (manchmal auch Feengeistchen genannt), ein wunderschöner kleiner Schmetterling. Dieses Tier scheint fast unwirklich in seiner geisterhaften Erscheinung. Als die Sonne sich immer weiter richtung Erde bewegte, beschloss das kleine Geistchen sich davon zu machen und auch wir begaben uns langsam auf den Rückweg in Richtung unseres Autos.

Wir trotteten einen zwischen hohen Büschen und Bäumen versteckten Pfad entlang, der zur leichteren Begehbarkeit teilweise gemäht war. Als wir vor uns einen kleinen Vogel im kurzen Gras herumhüpfen sahen, brauchten wir einen Moment und ein paar weitere Schritte um ihn zu identifizieren. Ein junger Grünspecht saß vor uns. Wir versuchten ein paar Bilder zu erhaschen, was sich im Halbdunkel des umliegenden Gestrüpps als schwierig erwies. Also probierten wir uns langsam und vorsichtig an den Kleinen heran zu pirschen. Er hopste hie und da mal einen Sprung um wieder ein paar Zentimeter mehr zwischen sich und die komischen Zweibeiner zu bringen, blieb ansonsten aber erstaunlich ruhig. Er hätte sich auch jederzeit zwischen die Büsche flüchten können.

Während wir noch versuchten ein paar mehr Bilder von dem kleinen Grünspecht zu machen bevor wir ihn verließen, änderte er auf einmal unvermittelt seine Richtung. Er hopste direkt auf uns zu! Trotz der Irritation wegen des unüblichen Verhaltens freuten wir uns, einen Grünspecht einmal so nahe erleben zu dürfen. Dennoch kam uns das alles irgendwie komisch vor, und es war tortz der einmaligen Gelegenheit schwer, sich auf das Fotografieren zu konzentrieren. Als er nur noch rund einen Meter entfernt war, ließen wir die Kamera vollends sinken. Irgendetwas stimmte nicht. Ein Blick auf den Vogel und ein zweiter Blick auf den Lupenausschnitt auf der Kamera brachte Gewissheit. Sein Schnabel war verletzt. Just in dem Moment verschwand der Grünspecht im Gebüsch.

Wir konnten nicht einfach von Dannen ziehen, wir brauchten Klarheit. Also verschwand Raoul von einem Moment auf den anderen im Gebüsch, dem Grünspecht hinterher. Wenige Momente danach vernahm man lautes Gezeter. Schon tauchte er wieder auf, mit dem kleinen Vogel in den Händen. Wir hätten uns gewünscht, dass es nur eine kleine Verletzung war oder wir uns gar nur verschaut hätten. Leider war dem nicht so. Der untere Schnabelteil war eindeutig gebrochen und aufgrund des Bruches stark verdreht. Es schien keine frische Wunde zu sein, jedoch eindeutig eine Einschränkung für den kleinen Specht. Seine Zunge war eingetrocknet und nun da wir ihn in Händen hielten, spürte man unter dem Gefieder den stark abgemagerten Körper des Tieres. So hatte er wohl kaum eine Chance die nächsten Tage zu überleben, abgemagert, flugunfähig und mit verletztem Schnabel. Wir beschlossen ihn mitzunehmen.

Während ich ihn auf dem Beifahrersitz hielt (ein festhalten war kaum nötig) fuhr uns Raoul zu seiner Mutter im Nachbarort. Wir hatten sie auf dem Weg über die Lage des kleinen Grünspechtes informiert, und sie richtete für uns eine Kartonschachtel her (Danke Mama!). Wir packten den Vogel in die mit Luftlöchern versehene Schachtel und machten uns wieder auf den Weg. Es war inzwischen fast neun Uhr abends. Ich erinnerte mich an die Tierärzte, die wir bereits mit Sabine Sperber besucht hatten. Sie hatten uns gesagt, dass wir in Notfällen gerne wieder bei ihnen anrufen könnten. Mit leichtem Bauchweh aufgrund der späten Stunde an einem Freitag, wählte ich die Mobilnummer. Und tatsächlich - sie meldeten sich. Es war kaum zu glauben, wir sollten um 10 Uhr vor der Ordination auf sie warten. Wir waren überglücklich.

Bereits um Viertel nach 9 waren wir vor der Ordination der Franziskus Tierambulanz angekommen. Der kleine Grünspecht hatte es sich inzwischen gemütlich gemacht, den Kopf zwischen die Flügel gesteckt und schlief seelenruhig. Also ließen wir ihn in der Zwischenzeit in seiner Kartonschachtel im Auto zurück während wir vor der Ordination aufgekratzt hin und her gingen. Wir bangten, diskutierten und planten, was wir die nächsten Tage alles tun müssten. Konnte der Schnabel versorgt werden? Wie viel Futter müssten wir bestellen? Wie fängt man eine große Menge Ameisen am besten? Da unterbrach uns das weiße Auto, dass langsam die Auffahrt herauf gerollt kam. Die Tierärzte waren angekommen.

Im Ordinationsraum begutachteten die Ärzte den Grünspecht erstmal genau. Wie vermutet gefiel ihm das nicht besonders, doch da musste der Kleine jetzt leider kurz durch. Der Schnabel wurde von allen Seiten inspiziert, doch die Miene der Tierärzte war nicht gerade als euphorisch zu beschreiben. Der Unterschnabelbruch war eindeutig erkennbar. Er hatte keine Verletzungen an den durchbluteten Teilen des Schnabels, jedoch würde sich eine Reposition des Bruches als sehr schwierig erweisen. Trotz einiger Erfolge in diesem Bereich, sei eine chirurgische Versorgung eines Schnabelbruches kein alltäglicher Eingriff und in vielen Fällen noch als experimentell anzusehen. Jedoch wollten wir alle den Vogel noch nicht sofort aufgeben, da er doch schon einige Tage mit dieser Verletzung überlebt hatte. An ein sofortiges Eingreifen war aber nicht zu denken. In seinem schlechten Ernährungszustand hätte er keine Narkose überlebt, geschweige denn einen schwereren Eingriff am Schnabel. Außerdem plagten ihn einige blutsaugende Lausfliegen, was in seinem Zustand noch zusätzlich Probleme bedeutete. Also sollten wir ihn in den nächsten zwei Wochen versuchen erst einmal hochzupäppeln, dann könnten wir uns erst über eine weitere Versorgung Gedanken machen.

Mit einem klitzekleinen Hoffnungsschimmer und dem Grünspecht im Gepäck verließen wir die Tierarztpraxis und stellten uns auf viele Wochen mit unserem neuen Gast ein. Wieder zuhause angekommen, versuchten wir alle Zweifel beiseite zu schieben bei dem Anblick des kleinen Grünspechtes, der eingemummelt in seinem eigenen Federkleid schlummerte. Morgen früh würden wir hoffentlich von lauten Grünspechtrufen geweckt, bevor noch unser Wecker schellen würde. Friedlich schlafend ließen wir ihn in einem warmen ruhigen Raum zurück und gingen zu Bett.

Heute morgen waren keine Grünspechtrufe zu hören. Er hatte die Nacht nicht überstanden. Wir wissen, die erste Nacht ist die kritischste. Sein Zustand war schlecht, aber man hofft immer. Lieber hätten wir die Arbeit gehabt, ihm sein Frühstück zu bereiten. Leider blieb sie uns erspart.

Die Stimmung ist gedrückt. Das Schreiben fällt nicht so leicht wie sonst, und trotzdem möchte ich seine Geschichte dokumentieren. Seine Geschichte soll - ER soll - Spuren hinterlassen. Wir haben vorhin den Tierärzten eine Mail geschrieben und sie über den Tod des Grünspechtes informiert. Nach so einem Fehlschlag plagen einen immer Zweifel. Hätte man mehr tun können? Hat man etwas falsch gemacht? Hätte man ihn sitzen lassen sollen? Er hätte es so oder so nicht überstanden, trotzdem sind solche Gedanken wohl normal. Die Antwort der Tierärzte tat gut. Es ist gut, dass es Menschen gibt, die sich dieser Tiere annehmen, auch wenn dieser Grünspecht es leider nicht geschafft hat.

An der Stelle möchte ich meinen Respekt all jenen Aussprechen, die sich tagtäglich für hilfsbedürftige Wildtiere einsetzen. Viele opfern ihre gesamte Freizeit und ihr hart verdientes Geld um diesen Tieren zu helfen. Danke liebe Tierärzte, Pfleger, Helfer und Päppler. Ein Rückschlag tut immer weh, aber vielen kann geholfen werden, die ohne euch keine Chance hätten. Danke.

Nina Leitgeb & Raoul Reichebner

Der Grünspecht (Picus viridis) ist einer der zwei Vertreter der Gattung Picus in Mitteleuropa und wird manchmal auch Grasspecht oder Erdspecht genannt. Er wird bis zu 32 cm lang und kann eine Flügelspannweite von bis zu 52 cm erlangen. Sein farbenprächtiges Gefieder ist besonders auffällig und macht ihn zu einem ausnehmend schönem Tier. Im Gegensatz zu anderen Spechten trommelt er sehr wenig, jedoch ist sein Reviergesang dafür umso lauter und markant.

Der Grünspecht findet seine Nahrung hauptsächlich auf dem Boden. Mit seiner bis zu 10 cm langen Zunge fängt er am liebsten Ameisen in Wiesen- und Weideflächen. Aber auch andere Insekten wie Fliegen und Mücken sowie Spinnentiere verschmäht er nicht. Die Angaben zur Bestandsentwicklung sind sehr widersprüchlich, eine Bestandsabnahme ist jedoch eindeutig erkennbar. Dies liegt hauptsächlich in anthropogenen Ursachen begründet. Der Mensch erstreitet immer mehr der Lebensräume des Grünspechtes für sich und vernichtet seine Nahrungsquelle zunehmend durch (sogenannte) Schädlingsbekämpfungsmittel.